«Imagineered Sculpture» von Ruth Blesi.


BILDER, SO ECHT WIE ZUCHTPERLEN

Sieben Jahre sind ins Land gezogen, seit das Fotomuseum Winterthur die letzte Übersichtsschau zu junger Schweizer Fotografie veranstaltete. Was ist seither geschehen?
Von Sascha Renner

«Young», so hiess 1999 die Ausstellung, in der das Fotomuseum Winterthur zu Tage förderte, was sich in der jungen Fotoszene tut. Seither, also bis zum eben eröffneten Follow-up «Reale Fantasien», hat sich vieles verändert. Damals noch kämpfte Direktor Urs Stahel in seinem Katalogtext gegen die Saga vom «langsamen Tod der Fotografie» an. In der rasenden Digitalisierung sah er eine Chance, während Skeptiker warnten, dass die Fotografie mit der Ablösung des chemischen Verfahrens auch den ihr zugeschriebenen Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt und damit ihre Essenz einbüsse. Aus einigen Jahren Distanz betrachtet, scheint «Young» tatsächlich in eine von Verunsicherung geprägte mediale Umbruchzeit gefallen zu sein.
Tempi passati. Gerade die nachrückende Generation von Künstlern bedient sich entspannt und mit grosser Selbstverständlichkeit des Klicks der Kamera und, falls es ihrer Sache dient, des Doubleklicks der Computermaus - nicht, um Effekte vorzuführen, sondern um präzise Haltungen und Bildwerte zu formulieren, die dem Zeitgefühl Ausdruck geben. Gleichzeitig ist die Szene in den letzten Jahren weiter gewachsen: Noch mehr Galerien, noch mehr Museen buhlen heute um die Fotografie, und mit diesen Bühnen ist auch das Qualitätsbewusstsein gestiegen. Ganze 250 Dossiers sind für «Reale Fantasien» bei den Kuratoren Urs Stahel und Thomas Seelig eingegangen, für «Young» waren es noch 150. Und für die Pionierschau «Wichtige Bilder» 1990 im Museum für Gestaltung seien die «guten Positionen aus der Schweiz mit einem Rechen im Kies zu suchen» gewesen, so Stahel.

Quintessenz des Blicks auf die Welt
.Aber nicht um die Entdeckung unerkannter Talente geht es in der aktuellen Schau; auf Grund der Multiplikation der Förder-, Ausstellungs- und Diskursorte kann sich das Fotomuseum getrost darauf beschränken, überwiegend Namen zu versammeln, um die sich in der Szene bereits ein gewisser Konsens gebildet hat. (Warum dafür 250 Dossiers geprüft werden mussten, bleibt jedoch uneinsichtig.) Das Verdienst der Schau ist es vielmehr, den Blick für die Ausdrucksformen zu schärfen, welche bei der nachrückenden Garde zurzeit im Kurs stehen, quasi die Quintessenz des heutigen Blicks auf die Welt.
Die Ausstellung fasst diese bereits im Titel in eine griffige Formel: «Reale Fantasien» bezeichnet eine Häufung bildnerischer Positionen, die aus dem Realen schöpfen, um Fiktionen, bisweilen irritierende Bildfallen zu kreieren. Ruth Blesi etwa verwendet eine schwarze Knetmasse, die sie als gigantische Skulptur in Landschaftsaufnahmen einfügt. Resultat: unheimliche Sciencefiction-Welten. Anders Collectif_Fact: Die Romands lassen die Bilder rotieren an Stelle des Betrachters. Zeichen aus dem Stadtraum - Fussgängerstreifen, Randsteine, Fassadenelemente - lösen sich vom Untergrund, geraten ins Trudeln, bis einem die Augen flackern. Marianne Engel verwandelt Waldstücke mit Lichteffekten in surreale Sommernachtsträume; und Rockmaster K schafft sich einen Freundeskreis digitaler Bastarde aus gemorphten Gesichtern.
Vorbilder sind sichtlich Jeff Wall oder Gregory Crewdson, doch gibt es auch viel Eigenständiges: Herbert Webers kleinphilosophische Kabinettstücke oder Erb/Rutishausers schauerliche Alpensaga; ausserdem Christian Waldvogels pseudowissenschaftliche Utopien und Marco Polonis «reale» Filmstills (beide bekannt von der letzten Architektur- bzw. Kunstbiennale von Venedig).
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Bild als Hülle und Oberfläche
.Eine Extremposition nimmt Shirana Shahbazi ein. Die Aneinanderreihung eines abstrakten Farbverlaufs, zweier Porträts, einer Landschaft, eines Früchtestilllebens und zweier Fototeppiche lässt auf Anhieb ratlos. Indem Shahbazi die Motive dekontextualisiert, die Gattungen mischt, lässt sie jede Suche nach einer übergreifenden Bilderzählung ins Leere laufen. Sie präsentiert das Bild als Hülle und Oberfläche, Vorwand für ein rein visuelles Gespräch. Aber was für eines: Shabazis bildnerische Lust und Kraft ragt aus den versammelten 21 Positionen heraus. Allein, die Leere zu akzeptieren, fällt schwer. Sind wir doch gewohnt, dass Fotografie (im Gegensatz zur Malerei) ihre Daseinsberechtigung aus der unmittelbaren Verknüpfung mit einer konkreten Situation erfährt.
Alles in allem lässt sich konstatieren: Die ausgereizte Trash-, Amateur- und Spontanästhetik früherer Jahre, aber auch experimentelle Bildsprachen und Präsentationsformen, sind kaum mehr auszumachen - farbig, viereckig, flach, das gilt für fast alle Arbeiten. Die Kunstfotografie ist durch und durch edel geworden, sie hält den Betrachter am Gängelband der Realistik, um ihn umso nachhaltiger in die Irre zu führen. Handwerkliche Nachlässigkeit ist kein Signum der künstlerischen Fotografie mehr, dagegen haben Intellektualität und die Lust am schönen Bild gleichermassen zugenommen. Hermetik und Selbstbespiegelung sind einer der Welt zugewandten Reflexion gewichen. Sagen wir es deutlich: Diese Fotografie ist zwar nicht kühner, dafür reifer und relevanter als noch vor sieben Jahren.
Dokumentiert ist alles in einem Katalog, der auf Grund seiner rundum schönen Machart zum Fetisch taugt (Merian, 49 Fr.).




Reale Fantasien
Neue Fotografie aus der Schweiz. Halle und Galerie. Bis 21. Mai. Führungen Mi 18 und So 11.30h


Fotomuseum »
Grüzenstr. 44
8400 Winterthur

04.03.2006 bis 21.05.2006